Wirestyle – Bilder der Extraklasse aus einem Faden
22.05.2022
Die Höhel der Patente
In Staffel 11, Folge 3, der TV-Show „Die Höhle der Löwen" präsentiert ein junges Startup, WireStyle aus Karlsruhe, Fotos in String Art, sogenannte Fadenbilder.
Das WireStyle Fadenbild ist ein Brett (bzw. Platte) mit einer Vielzahl an kleinen Nägeln, um die ein einziger langer schwarzer Faden gewickelt wird, um ein Bild entstehen zu lassen. Durch Überlagerung des Fadens ergibt sich der optische Effekt eines Bildes. So werden zum Beispiel Fotos mit Faden auf Holz erstellt statt mit Tinte auf Papier. Garnbilder sind daher eine kreative Alternative zum Fotodruck. Holzart, Holz- sowie Fadenfarbe können je nach Bedarf individualisiert werden.
Für das WireStyle Fadenbild wurde eine internationale Patentanmeldung eingereicht, zu der, zum Zeitpunkt der Ausarbeitung des vorliegenden Textes, bereits ein internationaler Recherchenbericht erstellt wurde. Anhand des WireStyle Fadenbilds soll gezeigt werden, wie ein Anspruchswortlaut im Vergleich zu zitiertem Stand der Technik interpretiert werden kann, wie der Aufgabe-Lösungs-Ansatz angewendet wird und wie mittels eines kleinen Kniffs der vormals nicht als neu gegenüber dem Stand der Technik angesehene Anspruch sogar erfinderisch sein kann.
Die internationale Patentanmeldung –
WO2022012916A2 (WO'916)
Schutzgegenstand
Ursprünglich wurde versucht, das WireStyle Fadenbild in drei unabhängigen Ansprüchen zu schützen: Anspruch 1, gerichtet auf den Nagel an sich; Anspruch 4, gerichtet auf die Platte mit den Nägeln; und Anspruch 6, gerichtet auf das Verfahren zum Herstellen der Platte mit den Nägeln (vgl. Bezugszeichen in Klammern aus Fig. 1 der WO'916).
Anspruch 1 der WO'916 definiert folgende Merkmale:
N1: Nagel (2) zur Verwendung für eine Stringart-Darstellung,
N2: wobei der Nagel (2) keine Verdickung an einem Ende in Form eines Kopfes aufweist.
Anspruch 4 der WO'916 definiert folgende Merkmale:
P1: Platte (1) als Stringart-Darstellung, umfassend
P2: einen oder eine Mehrzahl an Nägeln (2), nach einem der vorhergehenden Ansprüche.
Anspruch 6 der WO'916 definiert folgende Merkmale:
V1: Verfahren zur Herstellung einer Platte (1) nach einem der Ansprüche 4 oder 5, umfassend die Schritte:
V2: Zuführen eines Endlosdrahtes (6),
V3: Rammen des Endlosdrahtes (6) in die Platte (1),
V4: Ablängen des Endlosdrahtes (6), sodass sich ein Nagel (2) nach einem der Ansprüche 1 bis 3 ergibt.
Stand der Technik
Im Recherchenbericht zitiert die Recherchenbehörde drei Dokumente D1 (US4964774A), D2 (US6149436A) und D3 (US1440579A) als relevant für den Inhalt der gesamten Ansprüche der WO'916. Insbesondere sieht die Recherchenbehörde Anspruch 1 als nicht neu gegenüber D1 an, Anspruch 4 als nicht neu gegenüber D2 an, und Anspruch 6 als nicht erfinderisch gegenüber einer Kombination aus D2 und D3 an.
Anspruch 1 – Mangelnde Neuheit
gegenüber D1 (US4964774A)
D1 offenbart in Fig. 1 aus D1, wie unten abgebildet, einen Nagel 10, dessen eines Ende (in Fig. 1 aus D1, oberes Ende) stumpf und abgeflacht ist, bzw. einen größeren Durchmesser hat als der Rest des Nagels 10, und dessen anderes Ende (in Fig. 1 aus D1, unteres Ende) spitz ist, bzw. sich zu diesem anderen Ende hin verjüngt:
Der Nagel 10 aus D1 ist naturgemäß für verschiedene Verwendungen vorgesehen und erfüllt somit das Merkmal N1.
Anmerkung: Die Begrifflichkeit „zur Verwendung für eine Stringart-Darstellung" ist hier quasi nicht einschränkend, da nach unserer Auffassung jede Art von Nagel für die Stringart-Darstellung verwendet werden kann.
Auch hat der Nagel 10 am unteren Ende eine Spitze und weist somit keine Verdickung an „einem" Ende in Form eines Kopfes gemäß dem Merkmal M2 auf.
Der ursprüngliche Anspruch 1 der WO'916 ist somit nicht neu gegenüber D1.
Anspruch 4 – Mangelnde Neuheit
gegenüber D2 (US6149436A)
D2 zielt darauf ab, einen dreidimensionalen taktilen Kunstgegenstand bereitzustellen (vgl. Spalten 1 und 3 in D2, und Fig. 1 aus D2 wie unten abgebildet). Hierbei offenbart D2 einen Bausatz 65 mit Holzbrett 69 und dünnem Papierblatt 71. Die Nägel 75 sind durch das Papierblatt 71 in die obere Fläche 74 des Bretts 69 geschlagen.
Das Brett 69 ist somit eine für eine Stringart-Darstellung vorgesehene Platte nach Merkmal P1. Auch sind in das Brett 69 eine Vielzahl von Nägeln 75 gemäß dem Merkmal P2 geschlagen, deren unteres Ende spitz ist und damit keine Verdickung aufweist (siehe Merkmale P2 i.V.m. N1 und N2 aus dem rückbezogenen Anspruch 1; vgl. Nägel 75 unten rechts in Fig. 1 aus D2).
Der ursprüngliche Anspruch 4 der WO'916 ist daher nicht neu gegenüber D2.
Anmerkung: Da Anspruch 4 von einem der Ansprüche 1 bis 3 abhängig ist, wäre der Gegenstand von Anspruch 4 notwendigerweise neu, falls der Gegenstand von Anspruch 1 neu wäre.
Figur 1 aus D2 – Zeichnung aus US6149436A
Anspruch 6 – Mangelnde erfinderische
Tätigkeit gegenüber D2 und D3 (US1440579A)
Im Folgenden wird die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands von Anspruch 6 anhand des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes bestimmt.
Anmerkung: Der Aufgabe-Lösungs-Ansatz (auch Problem-Solution Approach genannt) ist der vom Europäischen Patentamt angewendete Ansatz zur Bestimmung der erfinderischen Tätigkeit.
1) Nächstliegender Stand der Technik D2
Da D2 ebenfalls ein Verfahren zur Herstellung einer Platte, wie oben zu Anspruch 4 beschrieben, beschreibt, und D3 lediglich die Herstellung von Nägeln betrifft, ist D2 der nächstliegende Stand der Technik, und offenbart zumindest das Merkmal V1.
2) Unterscheidungsmerkmale zu D2
Auch werden in D2 die Nägel in die Platte gerammt, ähnlich dem Merkmal V3. D2 weist allerdings keinen Endlosdraht auf, sondern lediglich einzelne Nägel, die in die Platte geschlagen werden.
Somit könnte sich Anspruch 6 von D2 durch folgende Unterscheidungsmerkmale unterscheiden:
V2: Zuführen eines Endlosdrahtes,
V3: Rammen des Endlosdrahtes in die Platte,
V4: Ablängen des Endlosdrahtes, sodass sich ein Nagel nach einem der Ansprüche 1 bis 3 ergibt.
Wichtig: Bei Verfahrensansprüchen, wie dem vorliegenden Anspruch 6, ist die Ausführungsreihenfolge in der Regel vertauschbar, so dass im vorliegenden Fall das Merkmal V4 vor den Merkmalen V2 und/oder V3 ausgeführt werden kann.
Demnach unterscheidet sich Anspruch 6 von D2 nur durch folgendes Unterscheidungsmerkmal:
V2: Zuführen eines Endlosdrahtes,
V3: Rammen des Endlosdrahtes in die Platte,
V4: Ablängen des Endlosdrahtes, sodass sich ein Nagel nach einem der Ansprüche 1 bis 3 ergibt.
Kurze Erläuterung: Wenn der Endlosdraht gemäß dem Merkmal V4 abgelängt wird, entsteht dadurch der Nagel, der dann gemäß Merkmal V2 zugeführt wird und gemäß Merkmal V3 in die Platte gerammt wird. D2 zeigt ebendieses Prinzip in Fig. 1 (vgl. Spalte 3 in D2).
Der Unterschied des Gegenstands von Anspruch 6 zu D2 liegt somit in dem Merkmal V4.
3) Technischer Effekt – Objektiv technische Aufgabe
Aus dem Merkmal V4 ergibt sich der technische Effekt, einzelne Nägel herstellen zu können. Folglich ergibt sich die objektive technische Aufgabe, die Vielzahl von Nägeln mit dem Endlosdraht bereitzustellen.
4) Naheliegen
Der Fachmann könnte zur Lösung der objektiven technischen Aufgabe D3 heranziehen. D3 bezieht sich auf die Bereitstellung einer Nagelkette. Um beim Abtrennen der Nägel von der Nagelkette die Bildung von Spitzen zu erleichtern, werden die Schäfte der Nägel an den Köpfen 2 der benachbarten Nägel abgeschnitten (siehe rechte Seite, Schnittfläche 14 in Fig. 1 aus D3).
Da D3 das Bereitstellen von einzelnen Nägeln betrifft, würde ein Fachmann, zum Lösen der oben gestellten objektiven technischen Aufgabe, die Lehren aus D2 und D3 mutmaßlich in naheliegender Weise kombinieren. Der Fachmann müsste somit mutmaßlich nicht erfinderisch tätig werden, um zum Gegenstand des Anspruchs 6 zu gelangen.
Figur 1 aus D3 – Zeichnung aus US1440579A
Effektive Abgrenzungsmöglichkeit von D1, D2 und D3
Ein Kerngedanken des WireStyle Fadenbilds sieht vor, eine Vielzahl von kopflosen Nägeln aus einem Endlosdraht herzustellen. Speziell wird der Kopf dadurch weggelassen, indem der Endlosdraht erst in die Oberfläche der Platte eingestochen und danach abgelängt wird (siehe Seite 2, Zeilen 22 bis 24, der WO'916). Die kopflose Formgebung kann sich durch die Form der Schneidvorrichtung 3 ergeben (vgl. Fig. 1 der WO'916 oben).
Im Stand der Technik dagegen (vgl. Figuren in D1, D2 und D3 oben) werden „Nägel mit Köpfen gemacht".
So könnte Anspruch 1 z.B. basierend auf Seite 2, Zeilen 17 und 18, der WO'916 geändert werden, so dass der Nagel „keine Verdickungen in Form von Köpfen" aufweist. Damit wären beide Enden explizit definiert und würden sich von D1 bis D3 unterscheiden, die jeweils Nägel mit Köpfen haben.
Infolgedessen würde sich auch Anspruch 4 aufgrund der Abhängigkeit von Anspruch 1 von D1 bis D3 unterscheiden.
Hinsichtlich des Anspruchs 6 könnte alternativ, zum Beispiel ohne eine solche Änderung an Anspruch 1, oder zusätzlich zu einer solchen Änderung, das Merkmal V4 dadurch klargestellt werden, dass es nach dem Merkmal V3 durchgeführt wird (siehe bspw. Seite 2, Zeilen 22 bis 24, der WO'916).
Durch den Nagel ohne Kopf bzw. das entsprechende Ablängen nach dem Rammen kann eine schnellere und effizientere Herstellung des Stringart-Bildes gegenüber D1 bis D3 erreicht werden (vgl. Seite 2, Zeilen 8 bis 11, der WO'916).
Im Ergebnis könnte mit einer simplen Änderung am Wortlaut des Anspruchs 1 für den gesamten Anspruchssatz, einschließlich der Ansprüche 4 und 6, eine Bewertung als neu und erfinderisch erreicht werden. Daher könnte für das WireStyle Fadenbild mittels dieser kleinen Änderung des Anspruchs 1 der WO'916 in späteren nationalen/regionalen Phasen ein Patent erlangt werden.
Anmerkung: Die hier dargestellte Sichtweise basiert lediglich auf dem im Recherchenbericht zitierten Stand der Technik. Sollte ein Nagel ohne Kopf gemäß oben genannter Art im Stand der Technik bereits bekannt sein, ist zumindest unsere Auffassung bezüglich der aufgezeigten Ausführungsreihenfolge in Verfahrensanspruch 6 zutreffend.
Fazit
Es wurde gezeigt, wie bei Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes ein Anspruch mit dem Stand der Technik hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit analysiert werden kann. Die Grenzen zwischen mangelnder Neuheit und fehlender erfinderischer Tätigkeit können oftmals verschwindend gering sein. So wurde für den Fall des WireStyle Fadenbilds gezeigt, dass mit einer kleinen Klarstellung „kopflos" im Vorrichtungsanspruch 1 bzw. durch Ändern der Reihenfolge der Verfahrensschritte in Verfahrensanspruch 6 ein gegenüber dem zitierten Stand der Technik nicht neuer bzw. nicht erfinderischer Gegenstand neu und erfinderisch werden kann.
Angesichts der hierin vorgeschlagenen Änderungen würde das WireStyle Fadenbild ein aus unserer Sicht sehr breiten Schutzumfang erhalten, bei dem der Nagel, die Platte und das Verfahren dazu nebeneinander geschützt wären. Auf Basis dieses Schutzumfangs können potenzielle Wettbewerber von einer Nachahmung des innovativen WireStyle Fadenbilds zukünftig effektiv abgehalten und gegebenenfalls verdrängt werden.
Disclaimer: Der vorstehende Beitrag spiegelt die persönliche Auffassung des Autors wider. Die im Beitrag vorgenommen Einschätzungen und Ausführungen stellen keine Rechtsberatung dar und werden unter Ausschluss jeglicher Haftung zur Verfügung gestellt. Wenn Sie eine patentrechtliche Prüfung Ihres Einzelfalls benötigen, so wenden Sie sich gerne an den Autor und/oder die Kanzlei KUHNEN & WACKER.
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